Am Montagabend lud unsere grüne Landtagsabgeordnete Fadime Tuncer in den Ladenburger Domhof zum „Talk mit Tuncer“. Themen waren, wie letzte Woche hier angekündigt, der Terrorangriff auf Israel und Antisemitismus in Deutschland. Zu Beginn erinnerte Tuncer an die Beispiellosigkeit der von der Terrororganisation Hamas verübten Massaker des 7. Oktober wie auch an die vielen Opfer der militärischen Reaktion Israels, die zum Teil als sogenannte menschliche Schutzschilde sterben mussten. Bestürzend ist, dass sich die Zahl der antisemitischen Übergriffe in Deutschland auf jetzt 29 pro Tag gegenüber 2022 vervierfacht hat. Es lässt sich intensiv darüber diskutieren, ob und inwieweit wir als Deutsche dem Staat Israel Ratschläge erteilen oder über die Regierungspolitik in Jerusalem urteilen sollten. Nicht diskutieren lässt sich darüber, dass es unsere dringende Aufgabe ist, dem hochkochenden Antisemitismus in unserem eigenen Land entgegenzutreten. Egal ob von rechts oder links, ob aus der „Mitte der Gesellschaft“ oder in migrantischen Milieus. Dies gilt ganz genauso für jede andere menschenverachtende Ausgrenzung. „Wir können den Nahostkonflikt heute Abend nicht lösen.“, beendete Tuncer ihre Einleitung. „Aber wir können für den Dialog einstehen, und zwar ganz konkret bei uns an Neckar und Bergstraße. Frieden beginnt mit Zuhören.“
Möglichkeiten und Grenzen der politischen Bildung
Nach diesem Eingangsimpuls berichtete Janis Detert, wissenschaftlicher Referent an der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt/Main, von den Möglichkeiten und Grenzen der politischen Bildung im Umgang mit Antisemitismus. An den Schulen haben sich die Übergriffe auf jüdische Schüler·innen vermehrt, Lehrkräfte fühlen sich alleingelassen, interne Konflikte werden nicht nach außen getragen. Auf der anderen Seite wird dieser Antisemitismus von rechtspopulistischen Kräften instrumentalisiert, um gegen Muslime und Flüchtlinge allgemein zu hetzen. Dies führt dazu, dass einerseits jüdische Kinder aus Angst vor Übergriffen im Schulleben und in der Öffentlichkeit unsichtbar werden und andererseits muslimische Schüler·innen unter einen ebenso schädlichen Generalverdacht gestellt werden. Die Bildungsstätte Anne Frank hat in Frankfurt seit Anfang Oktober hunderte Anfragen nach Beratung und Unterstützung bekommen, denen sie so gut wie möglich nachkommt. Interessanterweise berichtete später Albrecht Lohrbächer vom Freundeskreis Weinheim-Ramat Gan e. V., dass die Unterstützungsangebote seiner Organisation in Weinheim kaum nachgefragt würden. Zum Schluss seines Vortrags warnte Detert davor, Jugendliche wie Erwachsene auf ihre Religion, Herkunft oder sonstige Gruppenidentität zu reduzieren. Er sieht den entscheidenden Konflikt in unserem Land und insbesondere auch im Umgang mit dem aktuellen Nahostkrieg nicht zwischen Volksgruppen oder Religionen, sondern zwischen liberalen und antiliberalen Kräften in allen Gruppen.
Die Sozialen Medien
Ein weiterer wichtiger Punkt war für Detert die Rolle der Sozialen Medien. Diese erreichen gerade Jugendliche wesentlich mehr als Fernsehen oder Zeitungen, und das mit ungefilterten Gewaltdarstellungen von äußerster Brutalität und ohne jede journalistische Einordnung. Insgesamt kursieren im Netz zigmal mehr antiisraelische Inhalte als solche, die sich mit Israel solidarisch zeigen. Und auch direkte Hamas-Propaganda geht viral und ist auf allen Schulhöfen präsent. Dem ist schwer entgegenzutreten. Ein Rezept könnte laut Detert „Digital Streetwork“ sein, also die Zusammenarbeit mit in den Sozialen Medien einflussreichen Menschen, welche auf ihre Follower im Sinne von Toleranz und Dialogbereitschaft einwirken.
An Deterts Vortrag schloss sich eine von Fadime Tuncer moderierte Podiumsdiskussion an mit ihm, Albrecht Lohrbächer und Caitlin Follo aus Hemsbach, die nach ihrem Abitur gerade ein Freiwilliges Soziales Jahr in der rheinland-pfälzischen Gedenkstätte KZ Osthofen macht. Lohrbächer, der lange Zeit evangelischer Schuldekan war, erinnerte daran, dass Israel mit der Grundidee „Nie mehr Opfer sein“ gegründet wurde. Er berichtete von den Traumatisierungen in Weinheims israelischer Partnergemeinde wie auch von aktuellen Übergriffen auf Weinheimer Schüler·innen. Caitlin Follo erzählte von ihrer Arbeit in der KZ-Gedenkstätte. Sie selbst hätte dort noch keine Beschimpfungen durch antisemitische Besucher erlebt, diese seien aber in vielen anderen Stätten mittlerweile ein ernstes Problem. Auch sie betonte die Wichtigkeit und Gefahren der Sozialen Medien. Sie empfahl, Hass-Posts lieber zu melden und Anzeige zu erstatten, als direkt zu reagieren – denn auch negative Reaktionen auf solche abstoßenden Inhalte bringen mehr „Klicks“ und damit Werbeeinnahmen für den Betreiber.
Auch das Publikum erhielt Gelegenheit zum Fragen. Ein Erwachsener wollte wissen, wie am besten mit Schüler·innen zu reden sei, welche in ihrer Schule wie auch im Netz in diese Konflikte hineingezogen werden. Alle Podiumsteilnehmer versicherten, dass bereits die Bereitschaft der Erwachsenen zum Reden und Zuhören einen großen Wert darstelle – viele Jugendliche sind da heute komplett auf sich oder ihr gleichaltriges Umfeld gestellt. Wichtig sei zu fragen, wie die Jugendlichen die Situation erleben, und sensibel auf Rückfragen zu reagieren. Ein anderer fragte nach legitimer Kritik am israelischen Staat bzw. seiner Regierung. Hier antwortete Detert, dass derzeit jede und jeder in Deutschland solche Kritik äußern kann, wir uns aber fragen müssen, was wir damit zum jetzigen Zeitpunkt bewirken. Es kann durchaus vorkommen, dass man auch in gutgemeinter Absicht einmal antisemitische Stereotype reproduziert. Dies muss man dann aushalten, ohne selbst beleidigt zu sein.
Zum Schluss ging es noch einmal darum, wie die Jugendlichen und jungen Erwachsenen am besten zu erreichen seien – klassische politische Veranstaltungen wie auch diese Podiumsdiskussion ziehen offenbar eher andere Altersgruppen an. Dazu gab es zwei gute Tipps vom Podium: Janis Detert hat gute Erfahrungen damit gemacht, über Betriebe in Kontakt mit Lehrlingen zu kommen, und Caitlin Follo plädierte dafür, jugendliche Multiplikatoren auszubilden, denn engagierte Gleichaltrige hätten einen viel direkteren Zugang. So ist sie zum Beispiel selbst Fußballfan und trifft dadurch auf sehr unterschiedliche andere junge Menschen.
Nach zwei Stunden mit intensiven Eindrücken und Diskussionen schloss Fadime Tuncer die Veranstaltung mit einem trotz allem ermutigenden Zitat des israelischen Historikers Yuval Noah Harari: „Deutsche und Israelis, Deutsche und Juden sind nach dem Holocaust schließlich Freunde geworden. Wenn das möglich ist, ist alles möglich.“
Die nächste Veranstaltung „Talk mit Tuncer“ findet am 14. Dezember um 20h in der Weinheimer Stadtbibliothek statt. Thema ist dann „Zivilcourage“.